„Sexarbeit ist Schauspielkunst“

Sexarbeit ist mehr als Sex. Die Grenze zwischen Geldgeschäft und romantischer Beziehung verschwimmt immer mehr. So gehört es für viele Sexarbeiter:innen zum Arbeitsalltag gewisse Emotionen vorzuspielen und gezielt einzusetzen. Somit schaffen sie für ihre Kund:innen ein Erlebnis, welches der Intimität in romantischen Beziehungen gleichen soll: die sogenannte „Girlfriend-Experience“.

Ein Beitrag von Corinna Crestani, Hermine Gstaltner und Lara Marmsoler

Eine vollbusige, schwarzhaarige Frau, die mit Minirock, Pelzmantel und kniehohen Stiefeln am Straßenrand steht und raucht. Ein Auto kommt auf ihrer Höhe zum Stehen, der Fahrer kurbelt das Fenster herunter und die beiden tauschen ein paar Worte aus. Sie steigt ein, er fährt in eine Gasse und nach 15 Minuten ist das Geschäft erledigt. So schnell wie sie im Auto drinnen war, ist sie wieder draußen. Das ist das Bild, das viele noch immer von Sexarbeiter:innen und Sexarbeit haben. Der Realität entspricht das allerdings selten. Sexarbeit hat viele verschiedene Gesichter und erfüllt die unterschiedlichsten Funktionen, für Klient:innen selbst, aber auch für die Gesellschaft. hackln hat mit zwei Frauen gesprochen, die in dieser Branche tätig sind und an unterschiedlichen Enden des Spektrums arbeiten: „FetischBarbie“, eine Online-Domina, und Astrid, eine Sexualbegleiterin.

Sex ist kein Muss, aber ihn zu haben, kann durchaus positive Effekte erzeugen. Für die Gesundheit kann er in manchen Fällen wahre Wunder wirken. Und doch gibt es viele, die sich mit Sex überhaupt nicht beschäftigen. “Die menschliche Fähigkeit, sexuelle Gefühle zu genießen und ganz unabhängig von der Fortpflanzung erleben zu können, könnte man als eine Art Luxus bezeichnen”, sagt Bettina Weidinger, pädagogische Leiterin beim Österreichischen Institut für Sexualpädagogik und Sexualtherapien (ISP). Notwendig sei er zwar nicht, er eröffne aber die Möglichkeit, “sich selbst zu erleben, den Körper zu spüren, aber auch Gefühle wahrzunehmen und durch die Sexualität Beziehungen zu gestalten.” Sexarbeit kann also genau diesen Zweck erfüllen, besonders für Menschen, denen durch verschiedenste Gründe der Zugang zu Sexualität erschwert wird. “Denn es gibt Menschen, die ohne Sexarbeit keine Erregung mit einer anderen Person erleben könnten”, so Weidinger.

Emotionen werden zu einem verkäuflichen Produkt

In der Sexarbeit wird Körperliches als eine Dienstleistung verkauft. Aber nicht nur das: Küsse, Umarmungen, Gespräche oder einfach nur Zeit miteinander zu verbringen gehören mittlerweile dazu. Sexarbeit geht also über die Grenzen des Körperlichen hinaus und bewegt sich in eine Sphäre, die vom Emotionalen charakterisiert wird. Immer mehr Kund:innen wünschen sich von Sexarbeiter:innen Authentizität und mehr noch, in vielen Fällen wünschen sie sich eine:einen Partner:in. Dies nennt man die sogenannte „Girlfriend Experience“.

Ausgelöst dadurch tritt ein anderes Phänomen auf den Spielplan der Sexarbeit. Mit dem Begriff „Emotionaler Kapitalismus“ beschreibt die Soziologin Eva Illouz Folgendes: Die Grenze zwischen dem privaten, emotionalen Bereich und dem öffentlichen, emotionsfreien Bereich löst sich immer weiter auf. Ökonomische Beziehungen werden immer stärker von Gefühlen geprägt. Und so verwandeln sich Emotionen selbst in ein ökonomisches Gut. Soft Skills – das Management von eigenen und fremden Gefühlen – werden in der heutigen Berufswelt immer wichtiger. Das trifft besonders auf Tätigkeitsfelder innerhalb des Gesundheits- und Sozialwesens und dem Dienstleistungssektor zu.

Die Grenze zwischen Arbeit und Persönlichem zu ziehen, ist ein Thema, das alle Arbeitenden betrifft. Doch im Fall von Sexarbeit muss die Grenze zwischen Arbeit und Intimen gezogen werden. Obwohl die emotionale Komponente laut Weidinger keine Voraussetzung für Sex ist, auf irgendeine Art und Weise Gefühle für die andere Person zu haben, kann dazu führen, dass sich durch den Sex eine Bindung aufbaut. Da kann es schon mal passieren, dass Kund:innen eine sexuelle Dienstleistung als ein authentisches Erlebnis, das aus der persönlichen Lust heraus passiert, einstufen.

Von Online-Domina bis Sexualbegleiterin

Sexarbeit ist nicht so eindimensional, wie sie vielen vielleicht erscheinen mag. Dass man dies in der Gesellschaft nicht so wahrnimmt, hängt vielleicht auch damit zusammen, dass Sex häufig noch als Tabuthema eingestuft wird. „Auch wenn der Intimitätsfaktor häufig betont wird, so gibt es viele soziale Regeln und Werte rund um die Sexualität“, sagt Bettina Weidinger vom ISP. Denn sobald etwas die Grenze zur Öffentlichkeit überschreitet, formen sich automatisch Normen. „Erfreulicherweise brechen manche dieser Normen stückweise auf, die Einschränkungen und Bewertungen sind aber nach wie vor sehr präsent“, so Weidinger. Sexarbeit hingegen leidet noch immer unter diesen Normen. Die Gesellschaft nimmt ihr gegenüber eine Abwehrhaltung ein und drängt somit all jene, die Berufe in diesem Sektor ausüben, an den Rand der Gesellschaft. hackln hat mit zwei Frauen gesprochen, die in dieser Branche tätig sin.

„FetischBarbie“ (Künstlerinnenname) ist seit zwei Jahren als Sexarbeiterin auf Plattformen wie OnlyFans tätig und bietet Online-Dienstleistungen vor der Webcam an. “Körper verkaufen? Das existiert nicht. Sexarbeit ist eine ganz normale Dienstleistung. Alles andere ist Menschenhandel”, sagt sie gegenüber hackln. Persönlich trifft sie ihre Kund:innen nicht, zwischen ihnen befindet sich ein Bildschirm. Und doch lernt sie ihre Geschichten kennen, weiß von vielen, was sie beruflich machen. Auch wenn es sich um keine emotionale Bindung im klassischen Sinn handelt, eine gewisses Kennenlernen oder eine Nähe entwickelt sich also automatisch. “Ich habe damit überhaupt kein Problem. Sicher sehe ich den Menschen dahinter, aber für mich ist es trotzdem noch ein Bildschirm”, erklärt „FetischBarbie“. Um sich noch mehr Distanz zu verschaffen, hält sie sich an fixe Arbeitszeiten und die räumliche Trennung von Privatem und Professionellem. In ihrer Wohnung hat sie einen Raum, der nur für das Cammen gedacht ist. Dort zieht sie sich um und dort lässt sie die Arbeit Arbeit sein. “Ich weigere mich sogar mit den Latex-Sachen in mein Badezimmer zu gehen und mich dort umzuziehen. Wenn ich sie dann dort sehe, aber eigentlich schon dusche und runterkomme, dann bin ich wieder im Arbeitsmodus.”

Eine schwarzhaarige Frau trägt eine weiße Bluse und rote Lackstiefel und sitzt auf einem thron-ähnlichen Stuhl.
„FetischBarbie“ versucht Berufliches und Privates zu gut wie möglich zu trennen, indem sie sich räumlich und emotional von ihrer Arbeit distanziert. ©Lara Marmsoler

Eine andere Form der Sexarbeit ist die Sexualbegleitung. Dieser Job umfasst sehr viele Bereiche, wie beispielsweise Erstgespräche mit potenziellen Kund:innen, Administratives und persönliche Treffen. Die Sexualbegleiterin Astrid hat viele Kund:innen, die mit keinen sexuellen Erfahrungen zu ihr kommen. Sie haben noch nie eine Frau nackt gesehen und wurden auch noch nie im sexuellen Kontext berührt. Aufgrund dessen kommt Sexuabegleiter:innen ein höheres Maß an Verantwortung zu. Sie müssen sensibler agieren, eher davon ausgehen, dass Konsens nicht klar formuliert werden kann und haben eine gewisse Aufklärungsrolle inne. Deshalb spielen Emotionen in der Sexualbegleitung eine besonders große Rolle und Sexualbegleiter:innen müssen dementsprechend stärker darauf achten, sich emotional klar abzugrenzen.

Wie Astrid mit dieser emotionalen Seite ihrer Arbeit umgeht und wie sie Berufliches von Privatem trennt, erzählt sie hackln im Interview*:

*In diesem Interview wird bewusst die maskuline Form „Kunde“ verwendet, weil Astrid bisher ausschließlich männliche Kunden hatte.

Aus welchen Gründen wirst du von Kunden gebucht?

Viele erwarten natürlich sexuelle Befriedigung und Intimität. Manche wollen auch nur reden. In der Sexualbegleitung gibt es viele, die sich einfach mal als sexuelles Wesen wahrnehmen wollen. Kunden mit körperlichen Beeinträchtigungen haben zum Beispiel oft das Gefühl, sie seien nicht „ganz Mann“, weil sie gewisse Dinge mit Frauen nicht tun können. Ganz viele innerhalb und außerhalb der Sexualbegleitung wollen, dass ich ihnen das Gefühl gebe, dass ich sie begehre und dass sie sexuell gut performen.

Wie unterscheidet sich Sexualbegleitung außerdem von der Arbeit als Escort oder im Bordell?

Bei der Sexualbegleitung dreht sich ganz viel um Aufklärung: Viele fragen mich, wie sie eine Freundin finden können. Oft kläre ich über Sex auf.  Und mit vielen Kunden spreche ich über ihre sexuellen Unsicherheiten und versuche ihnen das Schamgefühl zu nehmen. Ich versuche ihnen zu vermitteln, dass jeder Wunsch, den sie mit einer zweiten Person konsensuell ausleben können, völlig ok ist.

In der Sexualbegleitung trage ich außerdem eine größere Verantwortung. Viele Kunden haben noch nie eine nackte Frau gesehen und wurden auch noch nie von einer berührt. Da muss man anders agieren, als mit jemandem, der gerade Lust auf Sex hat und genau weiß, was er will. Ich gehe außerdem grundsätzlich bei jedem Kunden, der intellektuell beeinträchtigt ist, davon aus, dass er es nicht schafft, seine Grenzen klar zu kommunizieren.

Ich frage im Vorhinein Angehörige oder Betreuer:innen, was die Anzeichen für Entspannung oder Unwohlsein beim Kunden sind. Ich frage währenddessen immer wieder den Konsens beim Kunden ab oder kündige an, was ich als nächstes tun werde. Man muss sehr viel empathischer sein und ganz genau auf die Reaktionen der Kunden achten. Bei der Sexualbegleitung passiert alles viel vorsichtiger. Es ist eine langsame Entwicklung vom Kennenlernen zu Kuscheln und Streicheln bis hin zum Sex. Sex habe ich mit Kunden im Rahmen der Sexualbegleitung oft erst nach mehreren Treffen.

Wie viel emotionale Arbeit leistest du als Sexarbeiterin?

Bei der Sexarbeit dreht sich ganz viel nicht um reinen Sex. Aber bei der Sexualbegleitung herrscht das höchste Level an emotionaler Nähe und Intimität. Im Grunde hilft man Menschen, die Nähe bisher noch nicht so gut ausleben konnten. Bei der Sexualbegleitung ist es für viele ein Wahnsinn, wenn sie mal gestreichelt werden oder wenn man nackt nebeneinander sitzt und sich nur ansieht. Das ist eine andere Art der Nähe, die ich bei einem 50-Jährigen im Bordell nicht habe. Aber auch da gibt es viele Kunden, die nach der körperlichen Befriedigung emotionale Intimität leben wollen. Wahrscheinlich liegt es an meiner Art, dass bei mir Kunden bleiben, die dieses Bedürfnis haben nach Reden und der emotionalen Ebene. Ich habe keinen einzigen Kunden mit dem ich die ganze Stunde Sex habe. Im Durchschnitt ist vermutlich die Hälfte meiner Arbeit körperlich und die andere Hälfte emotional. Wobei man beim Reden ja auch nackt im Bett liegt, sich ansieht, streichelt,…

Fühlst du diese emotionale Nähe auch?

Ich lege viel Wert darauf, dass sich meine Kunden gut fühlen. Sie sollen in dieser Stunde das Gefühl haben, dass ich wirklich nur für sie da bin und nicht, weil ich dafür bezahlt werde. Ich glaube, dass meine Kund:innen denken, dass ich diese Nähe auch fühle. Das tue ich auch irgendwie. Aber ich lasse mich in der Zeit mit meinen Kunden nie so richtig fallen. Oftmals liege ich neben dem Kunde und mir schwirren Gedanken über diese Situation durch den Kopf: Kunden haben das Gefühl, wir haben so etwas wie eine Beziehung, aber ich bekomme Geld dafür, dass ich genau dieses Gefühl bei ihnen wecke.

Viele von Astrids Kunden haben vor ihr noch nie eine nackte Frau gesehen oder sexuell berührt. ©Astrid

Hat sich schon einmal ein Kunde in dich verliebt?

Ja, das passiert häufiger. Gerade bei Stammkunden kommt es vor, dass sie mehr Gefühle haben. Die meisten können das aber glaube ich schon gut abgrenzen. Interessanterweise passiert das bei Kunden außerhalb der Sexualbegleitung öfter. Die schreiben mir immer wieder Nachrichten, die die Grenzen unserer professionellen Beziehung überschreiten.

Nachgestellter Screenshot einer Konversation zwischen Astrid und einem Kunden.
© fakewhats.com

Wenn die Kunden nicht beeinträchtigt sind, verliere ich bei solchen Nachrichten schon das Vertrauen in die Menschheit. Da nehme ich dann auch keine Rücksicht, wie bei beeinträchtigten Kunden.

Astrid, Sexualbegleiterin

Bei der Sexualbegleitung achte ich darauf, dass ich unser Dienstleistungsverhältnis immer wieder aktiv thematisiere. Da weise ich meine Kunden freundlicher und sensibler auf meine Grenzen hin. Wenn da jemand mehr Gefühle entwickelt, erkläre ich ihm, dass ich während der gebuchten Zeit wie eine Freundin bin aber nicht mehr außerhalb dieser Zeit. Ich sage ihnen, dass ich sie mag, aber dass da nicht mehr ist. Oft lasse ich mir das Geld auch von den Kunden direkt und nicht von ihren Betreuer:innen geben, so dass ihnen die Geldtransaktion vor Augen geführt wird.

Trotzdem passiert es immer wieder, dass sich Kunden verlieben. Meiner Meinung nach ist das aber eine ganz normale Entwicklung im Leben, die vielleicht auch zu einer persönlichen Entwicklung führen kann. Schließlich passiert es jedem mal im Leben, dass man sich unglücklich verliebt. Wenn es zu arg ist, muss der Kunde halt die Sexualbegleiterin wechseln.

Wie sehr nimmst du in deiner Arbeit eine Rolle ein?

Ich bin mir bewusst, dass ich eigentlich die ganze Zeit eine Rolle spiele. Man muss Emotionen zeigen, ohne dass sie da sind und dem Kunden das Gefühl geben, dass sie nicht vorgespielt sind. Mit Kolleg:innen scherze ich oft darüber, dass wir wirklich gute Schauspieler:innen sind. Vielen Männern gebe ich in der Stunde das Gefühl, dass ich total auf sie abfahre oder dass ich es total genieße, dass wir da zusammen liegen. Mit manchen Kunden ist es auch echt schön, weil sie nett sind und ich Sexualität und Intimität relativ pragmatisch sehe – ich muss nicht verliebt sein, um Sex zu haben. Trotzdem würde ich in meinem Privatleben mit 70 Prozent meiner Kunden wahrscheinlich nicht im Bett liegen.  Gleichzeitig will ich meinen Kunden das Gefühl geben, dass ich nicht nur mit ihnen Zeit verbringe, weil ich bezahlt werde. 

Wie anstrengend ist es für dich diese Rolle zu spielen?

Bei manchen Kunden kann das extrem anstrengend sein. Es ist emotional fordernd, wenn man stundenlang gezwungen ist, jemandem zu zeigen, dass man ihn total gerne hat, obwohl man ihn nicht unbedingt gerne hat. Man muss in anderen Berufen auch freundlich zu Menschen sein, die man eigentlich nicht mag. Bei der Sexarbeit ist es aber besonders. Hier muss ich nicht nur so tun, als ob mir der Mensch nicht nur auf die Nerven geht, sondern das komplette Gegenteil: Ich muss diesem Menschen das Gefühl vermitteln, dass ich total auf ihn abfahre. Das ist sehr anstrengend.

Wie schaffst du es, dich emotional abzugrenzen?

Das ist eigentlich das Schwierigste. Man liegt nackt nebeneinander, streichelt sich und führt tiefe Gespräche. Da entsteht eine extreme körperliche und emotionale Nähe. Gleichzeitig muss man aber im Hinterkopf die Gratwanderung schaffen, eine gewisse Distanz wahren. Das ist wirklich anstrengend. Ich habe zum Beispiel immer Kopf, was ich in Gesprächen mit Kunden von mir teilen will und was nicht. Wenn ich merke, dass ein Kunde von mir zu viel Nähe erwartet, erwähne ich in Gesprächen meinen Freund. Das holt die Leute dann meistens runter, weil ich ihnen vor Augen führe, dass sie nicht mein Freund sind. Wenn eine Stunde emotional besonders anstrengend war, dann muss ich mit jemand darüber reden. Mit meinem Freund, Freund:innen oder mit Kolleg:innen. Eigentlich wollte ich mir aber schon seit einem Jahr einen Therapieplatz suchen.

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